In abgebrochenen Räumen die Vierte suchen
2023
Als Kind habe ich einmal direkt in den Abgrund geschaut.
Das sind die Dinge, die ich noch weiß:
Ich war mit meiner Mutter in einem Zimmer.
Vom Fenster aus konnte ich draußen eine Metalltreppe sehen.
Außen am Haus, führte sie hinunter in einen Garten.
Dahinter ein leeres Grundstück.
Es war August.
In einer Ecke des Zimmers lehnte ein Spiegel, der mich in seiner Größe zu imitierten schien.
Er war rahmenlos, daher besonders fragil.
Aus irgendeiner Bewegung heraus, warf ich den Spiegel um.
Er zerbrach und überall lagen Scherben.
Meine Mutter schaute mich an und sagte:
Nun wirst du 7 Jahre Pech haben.
Ich war 9 Jahre alt.
Am nächsten Tag, hatte ich Streit mit meiner Mutter.
Unten im Garten nahm ich den Wasserschlauch und spritzte alles um mich herum nass.
Auch die Metalltreppe. Stufe für Stufe, minutenlang.
Als müsste ich etwas löschen.
Dann drehte ich den Schlauch ab und ließ ihn fallen.
Ich wollte hoch, weg aus dem Garten.
Die nasse Treppe vor mir führte hinaus.
Aus dem Haus schallte ein Lied, das ich nicht kannte:
Baby, better come back maybe next week
Can't you see I'm on a losing streak?
I can't get no, oh, no, no, no, hey, hey, hey
That's what I say ...
Ich trug nur meine nassen Socken.
Warum, weiß ich nicht mehr.
Dann lief ich die Treppe hinauf. Mit dem linken Fuß auf der vorletzten Stufe, griff ich die Metallklinke und trat gleichzeitig mit dem rechten Fuß auf die letzte Stufe. Da riss etwas von innen her an meinen Venen, Adern, Organen und Nerven.
Als würde ich implodieren, mich etwas zusammenschnüren.
Ich war festgeklebt am Metall und konnte mich nicht mehr lösen.
Drinnen drehte meine Mutter die Stereoanlage noch weiter auf.
… can't get no, I can't get no
I can't get no satisfaction, no satisfaction
No satisfaction, no satisfaction
I can't get no
Die oberste Stufe der Treppe stand unter Starkstrom, wegen eines bei Bauarbeiten angesägten Kabels.
Keiner hatte etwas bemerkt.
Durch das Wasser war sie doppelt geladen und ohne Gummisohlen – ohne Schuhe – war ich in einem Kreislauf gefangen.
Den gleichen Unfall hatte meine Mutter auch.
Im exakt selben Alter.
Im Mai 1968.
Von diesem Monat berichtet Antoinette Fouque:
„Der Mai 68 ist vor allem ein Aufbruch. (…) am Anfang stand doch der Schrei und mit dem Schrei der Körper: dieser Körper, den die Gesellschaft der Sechziger Jahre so malträtiert hat und der bei den Modernen, bei den heutigen Meisterdenkern, mit Gewalt verdrängt wird.“ (1)
Meine Mutter war 27 Jahre vor meinem Stromschlag, genauso festgeklebt wie ich.
Alle haben gesagt, es sei ihre eigene Schuld, irgendwas hätte sie ja sicher angestellt, um so bestraft zu werden. Man kann aber eigentlich nicht von einem Stromschlag sprechen. Denn es war kein Schlag, der mit einem Mal kommt und genauso schnell wieder geht. Es war eine unendlich lange, zähe Kraft, die an einem zog.
1995, im August, konnte meine Mutter, weil sie Schuhe trug, mich befreien und wir fuhren ins Krankenhaus. Im Bericht steht, dass ich ein 5 DM großes Loch in meinem Fuß hatte. Ich erinnere mich an eine völlig unblutige, weißliche Wunde. Ein helles Loch, so tief, dass selbst das Blut seinen Weg dorthin nicht fand. Als wäre ich aus weißem Kalk.
Das Metall hatte wohl das gesamte Rot aus mir herausgesogen.
Auf dem Weg ins Krankenhaus, im Auto, hatte ich entsetzliche Angst vor den Konsolen, den Griffen, dem Innengehäuse, dem ganzen Fahrzeug.
Überall war Metall.
Als ich bei dir im Atelier war, habe ich auf den Leinwänden ein ähnlich gefährliches Metall gesehen.
Aber jenes Metall war in Bewegung und löste sich aus seiner steifen Materialität. In deinen Malereien breitet es sich bedrohlich in die Länge aus, bildet eine endlose Fläche. Rote Farbe klebt an ihm, es scheint zu glühen, so heiß, dass es bis ins Grünliche leuchtet und sich verflüssigt. Eckige Konstruktionen schnüren sich rosettenhaft zusammen und winden sich aus ihren geometrischen Vorgaben. Auch an diesem Metall zerrt eine intrinsische Gewalt.
Der Abgrund, in den ich starrte, damals auf der Treppe, breitete sich in mir auch aus wie eine endlose Fläche. Er kam mit keinem bestimmten Gefühl, er war einfach da mit einer schieren Kraft und wollte mich auf ein Feld ziehen. Eine übermenschliche Plane, die horizontal in ihrer Endlosigkeit vor mir lag. Der Horror einer endlosen Fläche, die kein Ende nimmt. Die Panik kam also nicht von der Fläche selbst, sondern nur vor dem Unbekannten (Nicht-) Ende dieser Fläche.
Dem unbekannten Zweck dieses Raums.
Aufgewachsen in einer calvinistisch geprägten Denksuppe, wollte ich wissen, warum mir das zugestoßen ist. Als hätte mich jemand auf diese Plane geschupst. Ich wollte eine Erklärung wer und warum, was habe ich getan? Woher kommt meine Schuld?
Der Gedanke an die sieben Jahre Pech wickelten mich in eine seltsame Schleife aus meiner Mutter, dem Spiegel und dem aufgeladenen Metall.
Wieder bei dir im Atelier, hast du mir vom allerersten Bild erzählt, einer Art Mutter-Bild, auf das sich all deine Bilder beziehen. Ein Malen, das sich aus sich selbst vorantreibt, tautologisch fortträgt und eine dem Medium oft zugeschriebene Selbstreflexivität ins Extreme dehnt. Hier weigert sich die Malerei einen äußeren Zweck anzunehmen. Aber auch der reine Selbstzweck wird vorgeführt und durch jenes Perpetuieren fast schon jeglichen Sinns entleert – l´art pour rien?
Mit einem Meisterdenken kommen wir hier nicht voran.
Wir stoßen an einen Nullpunkt und müssen wieder von vorne anfangen. Immer wieder aufs Neue, denn es gibt keine Moral für die Frage, die wir uns stellen.
Der Ansatz scheint falsch zu sein. Unser Ausgangspunkt fällt in sich zusammen.
So gebärdet sich die Malerei hier eher als Rite de passage – als Höllenritt.
Ein Abgrund den wir vorgesetzt bekommen und dessen Ende nicht absehbar ist.
Die moralische Einordnung eines Unfalls der einem passiert und die Bewertung von Kunst, genauer von Malerei, die einem im Betrachtungsmoment passiert, kommen mir verwandt vor.
Als Betrachterin, als jemand der Kunst passiert, kann man folgendes tun:
Man kann eine Ebene füllen mit sieben Jahre Pech.
Sie mit Schuld und Selbstreflexivität verkleben.
Aus einem beschränkten Malereibegriff heraus behaupten, das sei alles eine bürgerliche Bestätigungs-Maschinerie, die unsere Besitzgüter in einem in der Wand eingelassenen Safe repräsentiert oder phallische Gebärden einer männlichen Gefühlswelt abbildet.
Also nur an jene Malerei denken, die sich sowohl als Event vertikal verhält, in dem sie im Betrachtungsakt eine fast peinliche Obrigkeit simuliert, als auch in ihrem Entstehen selbst, durch ein scheinbares Arbeiten nach oben und unten. Schiesst, spritzt, ins Unkenntliche stapelt, immer mehr verdichtet und vernichtet.
Bleibt man vor dieser vertikalen Malerei-Idee stehen, offenbart sich nur die eigene, anachronistisch aufgeladene Vorstellung, die dazu beiträgt, dass das Medium immer und immer wieder zwischen den Extremen des tot Erklärten und einer verächtlich kommentierten ubiquitären Sichtbarkeit hin und her gehandelt wird. Solch eine Betrachterin reduziert dadurch die Malerei auf das gemalte Bild als eine bürgerlich-performende Monade.
Das andere wäre die viel ältere Idee. Etwas, das wir auch hier sehen können – eine feministische Malerei. Gespickt mit Diven-haften, perspektivischen Verweigerungen, konstruktivistischen, metallenen Bodenplatten, die sich flüssig verziehen und andere, massive bis weiche Passagen freilegen und sich so als Abstraktionen einer Ur-Malerei rhizomatisch fortschreiben. Eine matriarchale Abstraktion, die sich in der Fläche einer Domäne nebeneinander, ineinander und aufeinander bezieht, sich horizontal ergießt, weiter schwappt und Ausbauchungen in eine vorgegebene Struktur einbläst, sich spekulativ über etwas rollt und sich so in einer subkutanen Brutalität existentiell gebiert.
So geht es hier also nicht um ein singuläres, hervorgestoßenes Meisterwerk, dem wir beim Posen zuschauen dürfen. Eher handelt es sich um den malerischen Versuch einer Annäherung an jenen Möglichkeits-Raum hinter der Wand, der sich aus sich selbst und dem Medium heraus aufklappt und in eine andere Dimension einschreibt. Nicht für uns, die Betrachterin, sondern mit uns als Betrachterin und potentieller Kollaborateurin. Nicht zu verwechseln allerdings mit emanatistisch hervorgebrachten Bildern, die passiv-spirituell aus etwas herausgeflossen sind – hier zeigt sich sehr wohl eine Informiertheit der Künstlerin selbst, gewebt aus Dingen, die wir noch nicht einordnen können.
Die pietistische Annahme, dass ein zufälliger Unfall etwas mit einem selbst und dem eigenen guten oder schlechten Verhalten zu tun haben könnte, ähnelt in ihrer fatalistischen Dialektik der bürgerlichen Annahme, dass sich Malerei allein für uns und als Abgleich dessen repräsentiert, was wir schon kennen, wissen und besitzen. Wir uns durch eine schnelle Entschlüsselung belohnen und uns somit das Bild untertan machen könnten. Eine Kunstbetrachtung, welche die Malerei zu einer hörigen Bringschuldnerin degradiert. Und einen Unfall zu einer personal message from god stilisiert.
Die Malerei hier, eröffnet eher ein Prinzip mit dem wir uns familiär machen können, paradoxe Anordnungen, die ein Denkfeld auffächern, fern vom stumpfen Suchen unseres Zwillings innerhalb der Malerei. Vielmehr zeigen diese Arbeiten ein Terrain auf, in das wir uns niederlassen oder einreihen können. Temporär und auf eigene Gefahr – denn den Horror einer endlosen Schleife auszuhalten und die in den Malereien durch exerzierte Ohnmacht zu ertragen, ist kein leichtes Unterfangen. Stellen wir uns aber diesem Ritt, können wir unser Denken durch diese Malereien weiterschrauben.
Eine anti-teleologische Malerei, die sich eher als Katalysator versteht und fern von Zeck-Gebundenheit, dennoch in der Lage ist zu aktivieren. Es geht um keine Wahrheit die am Ende steht; es geht eventuell um etwas, dass wir noch nicht kennen, dem wir uns aber annähern können.
(1) Aus einem ins Deutsche übersetzte Interview mit Antoinette Fouque im Freibeuter, Nr.48, Berlin 1991, S. 37
Exhibitions
05.10. — 27.11.2023