Jan Erbelding
Financial Times. A Wall Street Journal
2024

Ich liebe die Hitze in New York, die Hitze, auch wenn erst Mai ist. Schwül und diesig wird die Stadt, eine Stadt am Meer, eine Stadt mit Strand, eine der schönsten Städte der Welt. Sicher, mein Blick getrübt auch von der Tatsache, dass ich hier von ökonomischen Zwängen befreit an der Wall Street arbeiten kann. An meine Schienbeine klebt der Wind meine sehr weit geschnittene Hose. Hinten, sehr weit hinter den Waden flattert sie dann auch unaufgeregt rhythmisch von einer Seite auf die andere. Ich trage Gartenschuhe aus dunkelgrauem Plastikschaum, ein leichtes T-Shirt, heute ausnahmsweise eines in hellblau und dazu eine Sonnenbrille mit eher klassischer Form und Farbgebung. In der Hand die langen Henkel eines XXL-Tote-Bag mit Barbara Kruger Motiv – Künstler:innenbuchhandlung Sonderedition – die gefletschten Zähne eines kleinen karnivoren Predators (Hund oder Wolf) in Schwarz und Weiß und klein überdruckt mit einem roten Rechteck, darin in weißen Großbuchstaben der Satz BUSINESS AS USUAL. Für meine Tätigkeit an der Wall Street ist es selten einfach, ein Outfit zu finden. Think: business trekking day, think: formal beach hike, think: no-tie business casual all weather creative, think: highly versatile semi-formal cocktail carry-all. Ich sitze unter dem hübsch unregelmäßig löchrig jungen Blätterdach im Zucchotti Park. Durch das helle Grün streuen sich kleinteilig paar wenige Sonnenflecken über den weiten Platz. Es ist ruhig, der Wind weniger geworden, paar Food-Carts packen am Rand des Platzes schon zusammen, der späte Nachmittag zieht die Menschen in andere Stadtviertel, paar Leute spielen Schach wie jeden Tag, eine weit entfernte Sirene, es dauert bisschen, bis sie mir ins Bewusstsein kommt. „On Sept 17 [2011], flood into lower Manhattan, set up tents, kitchens, peaceful barricades and occupy Wall Street.“ 2011 taten um die 1000 Leute genau das. Zucchotti Park wurde von den Menschen wieder in Liberty Plaza Park umbenannt und über 95 Tage formierte sich genau hier OccupyWallStreet.

Überall in den USA und rund um die Welt schließen sich Menschen dieser neuen Bewegung an – nach dem Crash von 2007/2008, nach allem, was die Wall Street zerstört hat, in den USA verloren 8,8 Millionen Menschen ihren Job, 3,8 Millionen Menschen ihre Wohnungen oder Häuser. Was es gab, waren Bail-Outs für die Banken und Lohnverluste plus Austeritäts-Politik für die vielen. Und genau hier gibt ihnen die Bewegung tatsächlich echte Hoffnung zurück, we are the 99%.

Ich nippe an meinem Deli-Kaffee, der mir sofort Herzrasen macht und dieses Gefühl von Überwältigung in mir noch verstärkt, obwohl mir alles weiter unvorstellbar bleibt. Das Gefühl von Verbundenheit, nie mehr vereinzelt, die Ahnung dadurch dieses Mal wirklich etwas grundlegend ändern zu können.


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Financial Times. A Wall Street Journal
Jan Erbelding
19.09. — 07.11.2024